"In meinen 20ern habe ich eine Selbsthilfegruppe gegründet - und du so?"

05. Jan 2021 | Analena H.

Hannah ist gerade einmal 13 Jahre alt als sie davon erfahren hat, dass ihr Erzeuger ein andere Mann ist als angenommen. Wie sie dann mit 20 Jahren zu dem Entschluss kam eine Selbsthilfegruppe in der Schweiz zu gründen erzählt sie mir im Interview.

Foto: Hannah daheim in der Schweiz

Als Hannah mit 13 Jahren erfährt, dass ihr sozialer Vater nicht ihr Erzeuger ist, ist sie erstmal ziemlich allein mit dieser neuen Information. Dass es viele andere mit ähnlichen Geschichten gibt, weiß sie damals noch nicht. Mit wem sollte sie sich auch austauschen: In der Schweiz gibt es zu dem Zeitpunkt keine einzige Selbsthilfegruppe für “Kuckuckskinder”.
Sieben Jahre später im Jahr 2017 gründet sie deswegen im Alter von 20 Jahren kurzerhand einfach selbst eine Selbsthilfegruppe in Winterthur in der Nähe von Zürich. Ihre Gruppe ist die einzige im deutschsprachigen Raum - krass oder.

Seit es die Selbsthilfegruppe gibt, gibt es auch einen Platz in meinem Leben für das Thema.

In der Vergangenheit hatte sich ihre persönliche Geschichte und ihre damit verbundene Herkunft nicht mehr allzu oft in ihr Leben gedrängt, sie konnte die Tatsache gut verdrängen und Hannah begann sich neu zu akzeptieren.
Erst als sie eine Weiterbildung startet und erfährt, dass ihre Halbnichte, die im selben Alter ist, in dieselbe Ausbildungsklasse gehen könnte, kommt das Thema bei ihr plötzlich mit unerwarteter Intensität wieder hoch.
Hannah fühlt sich davon gestresst und mit den vielen Gedanken vollkommen überfordert. Das Thema will sie einfach nicht mehr loslassen und gibt ihr keine ruhige Minute mehr.

Wenn der Zufall dir eine Lösung bietet

Die Idee eine Selbsthilfegruppe für "Kuckuckskinder" zu gründen kommt zufällig. In dieser Phase der Überforderung fährt eines Tages ein Bus an ihr vorbei mit der Aufschrift "Alles steht Kopf". Irgendwie resonieren diese Worte mit ihrem damaligen Innenleben und sie schaute etwas genauer hin: Es war der Werbeslogan für das Selbsthilfezentrum Winterthur.
Genau das was ihr helfen könnte. Hannah meldet sich sofort bei der Selbsthilfezentrale und möchte einer Selbsthilfegruppe beitreten. Sich endlich mit anderen Betroffenen austauschen. Stattdessen erfährt sie, dass es zu ihrem Thema keine Selbsthilfegruppe gibt. Für Hannah war sofort klar: "Ich gründe meine eigene Gruppe". Denn wenn sie dabei noch von anderen unterstützt wird, gab es keinen Grund mehr diese Gruppe nicht zu gründen, dachte sich Hannah.

Unterstützung suchen wenn man daheim keine bekommt

Bevor sie die Gruppe gründet, kennt Hannah nur zwei Personen in ihrem Umfeld, die eine ähnliche Geschichte wie sie hatten. "Das waren leider keine mir sehr nahestehenden Menschen." Mit ihnen konnte sie sich also nicht wirklich austauschen - auch "haben die beiden schon viel mehr mit dem Thema abgeschlossen aber weil die beiden ganz anders an das Thema herangetragen wurden von ihren Familien". Hannah erwähnt, wie wichtig der Zeitpunkt ist, an dem man von diesem Geheimnis erfährt und in welcher Form man begleitet wird um das Thema bearbeiten zu können, bei ihr war das ganz anders als in ihrem Umfeld.

Im Nachhinein würde ich die Gruppengründung als einer meiner größten Erfolge bezeichnen. Ich bin
stolz auf mich [...]

Während des gesamten Gründungsprozess' hat sie Unterstützung von ihrem Freund und von einer gute Freundin. Ihren Eltern kann Hannah lange nicht davon erzählen, aber auch vielen anderen Menschen nicht. Unsicher darüber, dass sie jedem anderen ja gleich ihre komplette Geschichte erzählen müsse, habe sie anfänglich davon abgehalten von ihrer Idee zu berichten.

Meine Familie redet nicht sehr offen und direkt, da tanze ich einmal mehr aus der Reihe und [bin] konfrontativer.

Die Verantwortlichen des Selbsthilfezentrums Winterthur waren anfänglich unsicher, ob die Nachfrage für die Selbsthilfegruppe ausreichend ist. Um auf die neue Gruppe aufmerksam zu machen, wurde ein Artikel über Hannahs Geschichte in der Zeitung veröffentlicht. Der Artikel trifft voll ins Schwarze. Der Stein kommt daraufhin langsam ins Rollen. Es melden sich Frauen und Männer unterschiedlichen Alters, die Interesse haben der Selbsthilfegruppe beizutreten. Die Nachfrage ist letztendlich sogar so groß, dass zum Start direkt zwei Gruppen gegründet werden müssen, damit die Gruppengröße überschaubar bleibt.

Eigentlich wissen wir das ja alle: Reden hilft und heilt

Nach drei Jahren regelmäßigen Treffen sind heute aus den Mitgliedern in der Gruppe Freunde geworden. Die Gruppe selbst bezeichnet sich oft auch als Familie, was irgendwie auch zum teils großen Altersunterschied mancher MitgliederInnen passt.

Die Treffen sind für alle ein besonderer Ort.

"Alle sind unglaublich gewachsen was das Thema betrifft", sagt Hannah. Sie erzählt von gegenseitiger Motivation und Stärkung, besonders in Krisen. "Wir lernen durch den Zusammenhalt uns mehr für uns selbst einzusetzen und machen uns gemeinsam unsere Rechte deutlicher bewusst".

Wir sind alle sehr dankbar, besonders wenn jemandem aus einer Krise geholfen wurde.

Hannah hofft, dass die Gruppe noch lange existieren wird. "Manchmal hat man das Gefühl man hätte schon an allem gearbeitet und über alles gesprochen und jeder hat seinen Umgang damit gefunden. Trotzdem kommt immer wieder der Punkt an dem man wahrnimmt, dass noch einiges fehlt". Hannah ist es wichtig, dass die Gruppe als permanente Anlaufstelle für Betroffene dient: "In der eigenen Familienkonstellation kann sich immer wieder plötzlich was verändern, z.B. der Tod eines Angehörigen - das kann einen immer wieder aus der Bahn werfen und das Thema wieder präsenter werden lassen.

Selbsthilfegruppen genauso gesund wie Fitnessstudios

Aktuell sind die Treffen monatlich. Zu Beginn dachte Hannah bei dem Wort Selbsthilfegruppe noch selbst an die Treffen von anonymen Alkoholikern, ganz nach dem gängigen Klischee.

Hallo, ich heiße Bernd und ich bin Alkoholiker.

Diese Klischees nerven sie heute jedoch enorm. Denn sie weiß, dass ihre Gruppe überhaupt nicht so ist und sich das Image ändern muss. "Es ist modern nah und ehrlich", sagt sie.
Selbsthilfegruppen sind persönlich und nicht so dumpf und trocken wie sie gesellschaftlich dargestellt werden oder wie manche vermuten. "Eigentlich fühlt es sich an wie eine Freizeitbeschäftigung, was es im Grunde ja auch ist”, sagt Hannah. Nur dass sie nicht jedermann direkt erzähle, dass sie heute noch im Selbsthilfezentrum verabredet ist - anders als vielleicht bei einem Abo im Fitnessstudio, erzählt Hannah schmunzelnd. Obwohl sie sich damit schließlich auch gesund hält.

Mut zur Offenheit - "Hallo ich bin ein 'Kuckuckskind'"

Heute weiß Hannah’s komplette Familie natürlich bescheid. Einige Familienmitglieder sind stolz, dass sie so jung eine Selbsthilfegruppe ins Leben gerufen hat und damit so viel gutes bewirkt. Andere in der Familie verstehen jedoch leider noch immer nicht, warum der offene Umgang mit dem Thema so wichtig für Hannah ist. Hannah vermutet, der Grund dafür ist meistens der Wunsch nach Verdrängen oder Überforderung wie mit dem Thema umgegangen werden soll. Ein paar können sogar überhaupt nicht mit ihr darüber sprechen.

Es fehlt ihnen der Mut mich zu
fragen wie es mir damit geht.

Heute ist Hannah komplett verändert im Vergleich zum Beginn Ihres Weges in die Öffentlichkeit. Sie fühlt sich mutiger dem Thema gegenüber. Sie hat inzwischen einige Interviews gegeben und war auch bereits mit ihrem Thema im Schweizer Fernsehen zu sehen. Sie lässt sich dabei ungern sagen was sie darf und was nicht. Bis zu diesem Punkt war es ein harter Kampf und der ist es auch noch immer.
Sie emanzipiert sich von der Geschichte ihrer Mutter, denn es ist schließlich auch ihre Geschichte - mit allem Respekt ihrer Familie gegenüber. Einfach zu schweigen ist für sie und viele anderen letztendlich einfach keine gesunde Lösung mehr.

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