Ein Geheimnis kommt selten allein
Als 14-Jähriger erfährt Helmut, dass seine Mutter Sexarbeiterin ist. Das erfährt er nicht von seiner Mutter selbst, sondern von einem ihrer Bekannten. Helmut kennt ihn als Erbonkel. Der sogenannte Erbonkel ist selbst familienlos und ein ehemaliger Freier seiner Mutter. Ein Mann dessen Rolle nicht das fragwürdigste in dieser Geschichte ist. Um seiner Mutter einen Gefallen zu tun, besucht Helmut den Erbonkel regelmäßig (nicht der Erzeuger). Er stellt für den jungen Helmut eine männliche Bezugsperson dar.
Bei einem seiner Besuche erfährt er nicht nur, dass seine Mutter als Prostituierte ihr Geld verdient, sondern auch das sein Vater nicht sein biologischer Erzeuger ist.
Ich war wie paralysiert. Das hat nichts mit mir zutun.
Der Schein trügt
Auf Wunsch des Erzeugers geht Helmuts Mutter Elisabeth mit dem Beginn der Schwangerschaft nicht mehr auf den Strich. Helmuts Geburt läutet eine gute Zeit für die frischgebackene Familie ein. Man lebt zufrieden im eigenen Haus mit schönem Garten und einem schicken Auto vor der Tür. Elisabeth erhält die Konzession für ein Taxiunternehmen. Helmuts vermeintlicher Vater, Ziehvater, arbeitet als Angestellter für Elisabeth, ebenfalls als Taxifahrer. Das Leben der jungen Familie soll sich jedoch bald wieder ändern.
Foto: Helmut als Baby und am Tag seiner Einschulung.
Denn Elisabeth war unzufrieden. Anders als erhofft gefällt ihr das Taxifahren nicht. Ihr fehlt dabei die Anerkennung und die Profession die sie als Prostituierte erfahren hatte. Abgesehen davon kann sie in derselben Zeit als Sexarbeiterin das Doppelte verdienen als Taxifahrerin. Sie geht trotzdem nicht mehr auf die Straße. Deshalb entscheidet die junge Familie den Saunabereich im Keller des Hauses als Arbeitsstätte für die Mutter umzufunktionieren. Schnell wird klar, dass sie Helmut verstecken muss während sie ihrer Arbeit nachgeht. Eine Lösung musste her.
Foto: Familienfeier, Taxistolz und Eigenheim.
Wenn Zuhause keine Heimat ist
So verbringt Helmut die Jahre bis zur Einschulung in einer liebevollen Pflegefamilie. Seit er denken kann hat er diese Zeit in schöner Erinnerung. Als er in die Schule kommt, muss er in ein katholisches Internat. Ein Grauen für ihn.
Ich wurde in den katholischen Erziehungseinrichtungen nicht sexuell misshandelt, aber seelisch - mit Auswirkungen bis heute.
Die Wochenenden verbringt er bei Mutter und Vater. Sie geben sich Mühe als Familie und so ist er der Mittelpunkt der beiden an diesen wenigen Tagen. Dennoch wird Helmut nie das Gefühl los, Ballast für Mama und Papa zu sein. Trotzdem graut es ihm immer, bevor er wieder zurück ins Internat muss.
Das Internat ist alles nur nicht schön und so beschließt Helmut mit 14 Jahren, dass er dort nicht mehr sein will. Mit dem Beschluss ihres Sohns wächst auch Elisabeths Angst das Geheimnis könnte herauskommen. Letztendlich bittet sie ihren Bekannten den "Erbonkel", Helmut über ihre Arbeit als Sexarbeiterin aufzuklären. Sie selbst schafft es nicht. Dass bei jenem Besuch beim Erbonkel auch das Geheimnis über Helmuts eigentlichen Erzeuger gelüftet wird, war so von der Mutter nicht gewollt.
Foto links: Helmut mit Mutter, rechts: Helmuts Pflegefamilie unter der Woche.
Helmut will wissen was da los ist.
Als Helmut zurück ist und seine Mutter darauf anspricht, bittet sie ihn nichts davon dem Vater (Ziehvater) zu erzählen, aus Angst er könnte ausflippen. Als Choleriker sei es nicht das erste Mal gewesen, dass er sie mit einer Waffe bedroht habe. Helmut ist seiner Mutter gegenüber loyal und er schweigt bis zum Tode seines Ziehvaters. Ob jener es ahnte bleibt unklar. Das aufgedeckte Geheimnis veränderte die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Die Gefühle, die Helmut gegenüber seines Papas hat, die blieben erst einmal dieselben - er war der Papa. Dennoch sah er irgendwann kein Vorbild mehr in ihm, er identifizierte sich nicht mehr mit ihm. Letztendlich schub es unbewusst einen Keil zwischen die Beziehung der beiden und entzweite sie für immer.
Ein Vater war er nie
Seinen Erzeuger, ein Mann namens Pepi, kannte Helmut unbewusst schon, ohne zu wissen, dass er sein leiblicher Vater ist. Ähnlich wie der Erbonkel war Pepi lange Jahre ein Bekannter der Familie. Anfangs war Pepi noch ein Kunde von Elisabeth, irgendwann wurde er eine heimliche Affäre der Mutter. In dieser Rolle wollte Pepi dass Elisabeth aufhört auf den Strich zu gehen. Elisabeth war dazu bereit, jedoch nur unter der Bedingung, dass sie sofort aufhören würde sollte sie schwanger werden. Pepi willigte einer Schwangerschaft ein, betonte aber, dass er seine Familie nicht verlassen werde.
Foto: Die junge Mutter und Erzeuger Pepi mit Instrument.
Ein Vater war Pepi für Helmut letztendlich nie. Er kam aus gutbürgerlichen Verhältnissen und wollte alles andere als Chaos in seiner Familie stiften. Trotzdem war im Helmuts Mutter sehr wichtig und so redete er oft auf Elisabeth ein, damit sie sich an die Vereinbarung hält und nicht mehr der Sexarbeit nachgeht. Er begleitete sie bei ihren Fahrten mit dem Taxi, um ihre Unsicherheit beim Fahren zu beruhigen. Er gab ihr sogar manchmal das doppelte Gehalt, damit es lukrativer für sie wird - doch alle Mühen war letztendlich vergebens.
Alle Mühen vergebens
Elisabeth arbeitete nicht mehr auf dem Strich, aber dafür bei sich zuhause unten im Saunakeller. Als Helmut mit 14 Jahren das Internat verlässt um daheim zu wohnen, bekommt Helmut natürlich schnell mit, dass seine Mutter regelmäßig, meistens abends in den Keller verschwindet um ihrer Arbeit nachzugehen. Helmut muss kuschen und soll sich vor den Freiern verstecken. Sein Zuhause wird zu einem unangenehmen Ort.
Foto: Stolze Eigenheimbesitzer.
Helmut hält es nicht mehr aus und reduziert die Zeit zu Hause auf das Nötigste: Geld holen, essen und schlafen. Den Großteil seiner Zeit verbringt er bei Freunden. Dort bekommt er mit, wie Familienleben aussehen kann.
Nach kurzer Zeit wird das Anschaffen im Familienhaus und die damit zusammenhängende Heimlichtuerei zu kompliziert und auch das Geld reichte nicht mehr aus. Elisabeth entschließt sich daraufhin im Alter von 44 Jahren wieder zurück auf den Strich zu gehen.
Foto links: Helmut als Heranwachsender und rechts: Helmut mit seinem Ziehvater.
Dass seine Mutter eine Sexarbeiterin ist und wie er selbst überhaupt dazu steht, wird unterdessen die kleinere Sorge für Helmut. Denn nun quälen ihn die Ängste, dass seine Freunde mitbekommen könnten was seine Mutter beruflich tut.
Bis heute kam kein Freund zu ihm und sprach ihn darauf an, glücklicherweise. Heute hat sich Elisabeth zur Ruhe gesetzt und Helmut kümmert sich liebevoll um sie. Helmuts Ziehvater und auch sein Erzeuger Pepi sind beide verstorben.
Helmut ist strebsam. Er hat studiert und sich seinem Schicksal gestellt. Er lebt heute ein anderes Leben, nämlich einzig und alleine seins. Die Erfahrungen haben ihn geprägt, vieles ist noch da, in der Erinnerung - doch er lebt in der Gegenwart, denn in der Vergangenheit hängen zu bleiben ist für ihn keine Option. Auch wenn ihn die Frage nach seiner wahren Identität immer wieder beschäftigt.
Der Weg zum eigenen Leben
Wie kann man das nur ertragen, fragt man sich wohl jetzt. Für Helmut war die Antwort: Er hat sich Unterstützung gesucht. Er hat eine langjährige Psychoanalyse gemacht und hat sich mit seinem Leben und dem Erfahrenen intensiv auseinandergesetzt.
Foto: Helmut besucht seine Mutter.
Möchtet ihr mehr aus dem Leben von Helmut erfahren? Dann werdet ihr auf seinem Storyboard fündig. Dort schreibt er regelmäßig über verschiedene Ereignisse aus seinem Leben. Ich bedanke mich an dieser Stelle ganz herzlich für Helmuts Offenheit.
Wie war das bei euch? Kam mit einem Geheimnis direkt das nächste? Oder sind, ähnlich wie bei Helmut, gleich mehrere Sachen auf einmal zum Vorschein gekommen?
Kommentiert dazu gerne in der Facebook-Gruppe. Möchtet ihr Eure Geschichte ausführlich erzählen, sie selber niederschreiben oder ihr habt Lust auf ein anonymes Interview. Dann meldet euch unter fairdentity@gmx.de.
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